Was getan werden muss

Eva Brenner sprach mit Walter Baier, dem neuen Präsidenten der Europäischen Linken

Was sind die größten Herausforderungen der EL?

Das Wichtigste ist die sozial-ökologische Wende. Der Ausstieg aus den CO2-Technologien erfordert die europaweite Mobilisierung großer Mittel und Ausweitung öffentlichen Eigentums. Ein Problem, das im Rahmen der neoliberalen Idee, alles dem Markt zu überlassen, nicht zu lösen ist.

Welche Themen haben Priorität?

Ende des Krieges, eine neue europäische Friedensordnung, Schutz der Menschen vor der Explosion der Lebenshaltungskosten und die Rettung der Umwelt. „Frieden, Brot und Rosen“, wie im Slogan des Parteitags zusammengefasst.

Wie hat sich die EL entwickelt, wo liegen die Schwierigkeiten?

Sie ist gewachsen. Auch die Probleme sind unübersehbar: In den letzten Jahren sind vor allem kleine Parteien der EL als Vollmitglieder oder Beobachter beigetreten. Die wichtigste positive Ausnahme bildet da La France Insoumise. Das zweite große Problem ist die Schwäche der EL in Zentral- und Osteuropa. Hier ist die wichtigste positive Ausnahme die Linke Sloweniens.

Wie stand es um die Einigkeit beim Parteitag?

Es ging nicht um die Frage des Verhältnisses zur NATO, sondern um die Position zum Ukraine-Krieg. Es ist aber gelungen, eine Einigung über drei zentrale Forderungen zu erzielen: Waffenstillstand, Rückzug der russischen Truppen, Aufnahme von Verhandlungen – als gleichrangige Elemente einer Friedenslösung.

Reicht das aus?

Nein, aber politische Entscheidungen beruhen stets auf Kompromissen. Die Debatte wird also weitergehen Die Linke verfügt über Know-how in Theoriearbeit und Friedenspolitik. In Europa geht es um eine Verringerung militärischer Spannungen. Dazu wäre ein Abbau atomarer Offensivwaffen der NATO und Russlands dringend erforderlich. Wir müssen von der EU und den Mitgliedsstaaten verlangen, statt Aufrüstung auf Initiativen für eine Beseitigung der Atomwaffen zu setzen.

Wie schätzt du da die Chancen ein?

Die Völker im Süden fordern einen gerechten Anteil am Wohlstand. Der durch die Vorherrschaft der USA und ihrer Verbündeten gesetzte Ordnungsrahmen funktioniert nicht mehr. Damit wächst auch die Versuchung, die Gegensätze mit kriegerischen Mitteln zu unterdrücken.

Wie sollen Schritte zu einer Umsetzung der Transformationen vor sich gehen?

Der sozial-ökologische Wandel muss von den reichen Staaten finanziert werden. Doch auch dort verschärfen sich die Verteilungskonflikte. Der Aufstieg rechtsextremer, nationalistischer Parteien zeigt eine politische Krise auf. Die Linke braucht eine Strategie, die sie als Systemalternative erkennbar macht.

Wie stehen die Auspizien für die EU-Wahl 2024?

Die EL ist mit 44 Parteien aus 27 Ländern der größte Zusammenschluss linker Kräfte in Europa. Aber sie braucht Bündnispartner*innen, in Gewerkschaften, in Umweltbewegungen, in feministischen Bewegungen, unter Intellektuellen und Kunstschaffenden.

Welchen Einfluss hat deine Wahl zum Präsidenten der EL auf die Linke in Österreich?

Die Linke in Österreich entwickelt sich. Die Wahlerfolge der KPÖ in Graz, Linz, Salzburg und anderswo beweisen das. Soweit ich kann, werde ich mich bemühen, diese Entwicklungen zu unterstützen und die linken Kräfte vereinen zu helfen.

Walter Baier (KPÖ-Vorsitzender 1994–2006, Koordinator von transform!europe 2006–2020) wurde beim 7. Parteitag der Europäischen Linken (EL) im Dezember 2022 mit über 92 Prozent der Stimmen zum neuen Präsidenten gewählt. Interview gekürzt aus der „Volksstimme“

Ist alles halb so schlimm?

Walter Baier über neofaschistische Tendenzen in Europa und darüber hinaus

Es ist ein Mythos, dass Hitler 1933 die Macht ergriffen habe. Tatsächlich wurde sie ihm frei Haus übergeben. Immerhin verfügten nach den letzten freien Wahlen der Weimarer Republik die beiden Arbeiterparteien SPD und KPD über mehr Mandate als die Nazi-Partei und hätten gemeinsam mit der katholischen Zentrumspartei eine parlamentarische Mehrheit bilden können. Stattdessen aber ernannte der militaristische Reichspräsident Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler und ließ den Reichstag auflösen. Der Aufstieg des Diktators war also „aufhaltbar“ (Brecht), hätten Weitsicht und politische Intelligenz der antifaschistischen beziehungsweise nicht-faschistischen Parteien ausgereicht.

Weswegen ist diese Geschichte von aktuellem Wert? Deshalb, weil wir neuerlich von Frankreich über Schweden bis Italien erleben, wie eine Welle die neofaschistischen Parteien nach oben trägt. Dabei sind aber nicht übermächtige, unbekannte Kräfte am Werk, wie die unkritische Berichterstattung der Medien nahelegt. Im Gegenteil. Typischerweise geht der Beteiligung der radikalen Rechten an Regierungen ihre Verharmlosung durch das Establishment voraus. In Italien war es die konservative Forza Italia, die die Nachfolgepartei der neofaschistischen MSI an die Macht hievte, wobei am Schluss sogar der „Standard“ wohlwollend anmerkte, dass davon weder NATO-Kurs noch Sparpolitik der EU beeinträchtigt würden. Entwarnung! Alles halb so schlimm!

Trostlose Wirtschaftslage

Das Anwachsen nationalistischer, radikal rechter Bewegungen ist zudem kein europäisches, sondern ein weltweites Phänomen: Bolsonaro, Trump, Erdogan, Putin, um die auffälligsten Exemplare der Spezies zu nennen. Religiöse Fundamentalismen gehören in dieselbe Kategorie. Das Phänomen lässt sich nicht allein aus der Politik erklären, womit es auch außerhalb des Fokus der Medien liegt. Der ungarisch-österreichische Sozialhistoriker Karl Polanyi hatte 1944 geschrieben, dass der Aufstieg des Faschismus sich im Rhythmus der Auf und Ab der kapitalistischen Krise abgespielt hatte.

So auch heute. Die trostlose wirtschaftliche Lage und die Angst vor sozialem Abstieg von bislang relativ komfortabel auskommenden Mittelschichten zerstören zunehmend die Glaubwürdigkeit des politischen Systems und seiner Repräsentant*innen. Zugespitzt wird die Lage durch die ökologischen Krise und die gefährliche Erhöhung der internationalen Spannungen, sodass sich das Ge- fühl verbreitet, in einem Drama mit ungewissem Ausgang zu leben.

So müssen wir also erst recht von Politik und Kultur reden. Vom Loch nämlich, das der abgewirtschaftete Neoliberalismus in den Hirnen und Herzen hinterlässt, das – wird es nicht durch rationale Denkweisen und eine solidarische Kultur gefüllt – die Gespenster aus der finstersten Zeit wieder aufleben lässt. Diese geistige Leere ist wahrscheinlich die schlimmste Hinterlassenschaft des Neoliberalismus.

Das Beispiel Frankreichs zeigt aber, dass es nicht zwangsweise so sein muss. Wo kämpferische Gewerkschaften, eine breite Umweltbewegung und eine politische Linke, die sich trotz aller Schwierigkeiten zusammenrauft, bestehen, erwachsen dem Neofaschismus mächtige Gegner*innen. Nicht dass ihr Sieg garantiert wäre, aber ohne sie ist die Niederlage gewiss.

Der tägliche Massenmord

Walter Baier über das Grenzregime der EU.

Wir reden vom sozialen Mord, der täglich an den, an der Außengrenze der EU gestrandeten Flüchtlingen verübt wird. Allein die Pressemeldungen einer einzigen Woche vermitteln davon ein drastisches Bild.

Am 17. November entdeckten Seenotretter vor der Küste Libyens ein Boot mit 10 Toten. Am 20. November ertranken vor Libyen 75 Menschen. Am 23. November ertranken vor der Küste Frankreichs 35 Geflohene auf einem gekenterten Boot. Die Zahl der Menschen, die seit Jahresbeginn beim Versuch das Mittelmeer zu überqueren, zu Tode gekommen sind, beträgt inzwischen 1.300.

Indessen haben, wie das on-line-Magazin, German Foreign Policy meldete, mehrere Menschenrechtsorganisationen beim Internationalen Strafgerichtshof (ICC) Strafanzeige wegen schwerster Verbrechen eingebracht, die an Flüchtlingen in den Lagern in Libyen verübt werden. Die Beschuldigungen umfassen Freiheitsberaubung, Folter, Vergewaltigung, Versklavung und Mord.

Mutmaßliche Täter sind Wächter und bekannte Milizenführer. Mit Blick auf die Flüchtlingsabwehr der EU heißt es: „Europäische Akteure“ hätten, indem sie die Flucht aus Libyen zu verhindern suchten, „die Verbrechen gegen die Menschheit“ erst ermöglicht.

Elende Verhältnisse

In seinem berühmten Buch „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ hatte Friedrich Engels geschrieben: Wenn aber die Gesellschaft … Tausenden die nötigen Lebensbedingungen entzieht, sie in Verhältnisse stellt, in welchen sie nicht leben können, wenn sie sie durch den starken Arm des Gesetzes zwingt, in diesen Verhältnissen zu bleiben, bis der Tod eintritt, der die Folge dieser Verhältnisse sein muss; wenn sie weiß, nur zu gut weiß, dass diese Tausende solchen Bedingungen zum Opfer fallen müssen, und doch diese Bedingungen bestehen lässt – so ist das ebenso gut Mord. […] Ich werde nun zu beweisen haben, dass die Gesellschaft … diesen sozialen Mord täglich und stündlich begeht. (Marx Engels Werke, Band 2, S. 325). Dieses, von Engels ausgeführte Tatbild erfüllt die Flüchtlingspolitik der EU.

Reden wir also nicht (nur) über Alexander Lukaschenko und sein zynisches Manöver, an irakische, kurdische und syrische Flüchtlinge Einreisevisa wie Flugblätter verteilt, und ihnen einen damit problemlosen Eintritt in die EU in Aussicht gestellt zu haben.

Im Schlamm und in der Eiseskälte vegetieren vor den Stacheldrahtzäunen nicht er und seine Kumpane, sondern mehrere Tausend arme Teufel, denen von der EU das, ihnen in der Genfer Flüchtlingskonvention garantierte Recht auf einen Asylantrag verweigert wird. Mit welchen brutalen Methoden sie zurückgedrängt werden, kann man anhand der bruchstückhafter Berichte, die uns erreichen, nur erahnen, hat doch die polnische Regierung Menschenrechtsorganisationen und Journalist*innen vorsorglich den Zutritt zu den Grenzbezirken untersagt.

Wollte die EU in der Angelegenheit ein Minimum an Anstand zeigen, so müsste sie die Menschen einlassen und ihre Asylanträge in einem ordentlichen Verfahren bearbeiten.

Doch ist die EU-Flüchtlingspolitik in ihrer Gesamtheit ein Hohn auf die in der Genfer Flüchtlingskonvention garantierten Rechte. Sie zu respektieren, würde sichere Korridore als Fluchtwege aus den Krisengebieten erfordern. Nur so könnte den Lukaschenkos dieser Welt und den ausbeuterischen Schleppern der Boden entzogen werden.