Bullen und Bären in Nikosia

Herr Groll auf Reisen: Groll zeigt mit einer Börsengeschichte, dass Bauernschläue Aktien schlägt. Von Erwin Riess

Um die Jahrtausendwende wurde die Börse in Nikosia ins Leben gerufen. Viele Zyprioten nahmen Kredite auf, um an der vermeintlichen Springquelle des Reichtums mitzunaschen. In Wirklichkeit erwies der Aktienboom sich als groß angelegte Geldabschöpfungsaktion. Die Börse war der Staubsauger, der den Zyprioten das Geld aus den Taschen zog und in die Tresore des großen Kapitals blies. Mit ungläubigem Staunen verfolgte Groll die Ereignisse und legte eine Sammlung der skurrilsten Schnurren an. Mit weitem Abstand führte eine Geschichte die Sammlung an, es war die Geschichte des Börsengurus Apostollon.

Sechzig Jahre war Apostollon Anastassiades aus Kakopetria am Fuße des Troodos-Gebirges Schafhirte gewesen. Er hatte den Beruf als Jugendlicher ergriffen und hätte seine Tage wohl auch als Schafhirte beschlossen, wenn die Börse in Nikosia aus ihm nicht einen reichen Mann gemacht hätte. Seinem Reichtum lag aber keine glückhafte

Aktienspekulation zugrunde, sondern das Gegenteil: vollständiger Bankrott, die Vernichtung des gesamten eingesetzten Kapitals. Und das kam so.

Als die Börse eröffnet wurde, entdeckten die Inselbewohner ihre Spielleidenschaft und investierten wie toll in neu gegründete zypriotische Aktiengesellschaften. Der größte Tourismusanbieter Zyperns ist der Louis-Konzern, der im östlichen Mittelmeer auch zum größten Kreuzfahrtunternehmer aufgestiegen ist und Schiffe unter Vertrag hat, die zwischen Syrien, Israel, Ägypten, Rhodos und Zypern kreuzen. Als Louis an die Börse ging, glaubten die Zyprioten den Prophezeiungen der Louis-Manager. Das eingesetzte Kapital werde sich innerhalb weniger Monate vervielfacht haben, hieß es in den Prospekten. Indes arbeitete der Louis-Konzern mit einem doppelten Boden. Während die Publikumsaktien nur gegen hohe Ausgabeaufschläge zu haben waren, beteilte Louis Regierungsmitglieder, Oppositionsführer und hohe Beamte mit Aktien, die nur ein Zehntel dessen kosteten, was der Bankkunde zu zahlen hatte. Es waren diese privilegierten Aktienbesitzer, die mit einem blauen Auge aus der Aktieneuphorie ausstiegen, denn schon nach zwei Wochen waren die Louis-Aktien nur mehr ein Zehntel des Ausgabepreises wert.

Der Schafhirt Anastassiades hatte von der Goldquelle im nahen Nikosia gehört und beschloss, auf seine alten Tage Millionär zu werden. Er verkaufte seine Schafherde, immerhin über zweihundert Tiere, und erwarb nach Vermittlung eines Vermögensberaters um sein gesamtes Vermögen Louis-Aktien. Binnen weniger Tage war das Lebenswerk des Schafhirten ruiniert, er musste froh sein, als Sozialfall anerkannt zu werden. Da kam ihm ein Zufall zu Hilfe. Ein englischer Urlauber hörte vom Börsenpech des alten Mannes und setzte eine englische Boulevardzeitung auf die Story an. Eine Woche später er

schien der Daily Mirror mit dem Aufmacher: „So verspielte er sein Leben“. Die Leser waren von der Geschichte des armen Schafhirten so angetan, dass sie mehr über diesen Mann, in dem sich viele wiedererkannten, erfahren wollten. Bald erschien das ereignislose Leben des zypriotischen Schafhirten als Fortsetzungsgeschichte, und es dauerte nicht lange, da druckten Zeitungen aus Australien, den USA und Kanada die Geschichten nach. Der Daily Mirror schickte zwei Reporter nach Zypern, die die Vita des spät zu Ruhm Gekommenen etwas bearbeiteten, so dass die Geschichte in die Länge gezogen werden konnte. Längst hatte Apostollon Anastassiades sich von seinem Vermögensberater getrennt. Eine Kaffeehausrunde alter Männer hatte dessen Stelle eingenommen. Sie handelte die Verträge mit Zeitungen und Fernsehstationen aus, sorgte für allerlei Details aus dem Leben des einsamen Schafhirten und kümmerte sich um eine breite Anlagestreuung der Honorare. Die Runde investierte unter anderem in amerikanische Rüstungsaktien und schottische Golfplätze. Apostollon Anastassiades erhielt wieder eine Schafherde, kleiner zwar als die alte, aber für einen Greis ausreichend.

Nach einigen Wochen ließ das Interesse der Zeitungen an dem Hirten nach. Nun wurden Wirtschaftswissenschaftler in Kakopetria vorstellig, die von Apostollon wissen wollen, welches Computermodell er für seine geniale Anlagestrategie verwendet hatte. Der Alte aber schüttelte nur den Kopf und schwieg. Auch eine Ehrendoktorwürde aus Yale konnte ihn nicht zum Reden bewegen. Er wolle eine ordentliche Professur mit Lehrverpflichtung auf Lebenszeit, ließ Anastassia über seine Kaffeehausrunde verlauten, dann könne man weitersehen.

Halászlé in Floridsdorf

Herr Groll zuhause: Groll berichtet und zeigt, wie mit Fisch und Paprika der Tod vertrieben werden kann. Von Erwin Riess

Der Dozent und Herr Groll verzehrten in Herrn Grolls kleiner Gemeindewohnung eine ungarische Fischsuppe, eine Halászlé nach Tokajer Art. Herrn Grolls Kochkünste waren nicht der Rede wert, aber sein Lecsó und seine Halászlé konnten für die pannonische Küche Ehre einlegen. Seine unzähligen Aufenthalte am Donauknie oberhalb von Budapest oder im Süden, bei Mohács an der Grenze zum ehemaligen Jugoslawien, und in Tokaj hatten ihn in der Fischsuppen-Landeskunde weit vordringen lassen. Daß seine Großmutter mit den Erzählungen von Visegrád das Ihre dazu beigetragen hatte, soll nicht unerwähnt bleiben. Aber auch Herr Groll vermochte aus eigenem Erleben den Fundus von Kocherzählungen zu bereichern. Am besten gefiel dem Dozent jene von der Fischsuppe in Tokaj, die in einer berühmten Haláscsárda am Zusammenfluß von Theiß und Bodrog zu Hause ist. Diese „Mutter aller Fischsuppen“ ist hauptverantwortlich dafür, daß der Altersschnitt der Bewohner eines nahen Pensionisten- und Pflegeheims der höchste im ganzen Land ist. Die Suppe war auch für Ostungarn ungewöhnlich scharf, wies mit Fogás, wie der ungarische Zander genannt wird, Hecht (auf ungarisch: Heck) und Karpfen (Ponty) den besten Fischbesatz auf und kam vulkanfeuerrot und dampfend in einer großen Blechschüssel auf den Tisch. Dazu wurden frisches Weißbrot und ein kleines Schälchen, in dem drei kleine, längliche tiefrote Paprikaschoten zur Erhöhung der Schärfe lagen, aufgetragen. Die Insassen der Pflegeheims saßen einander nicht gegenüber, sondern hintereinander, jeder in seiner eigenen Reihe. Lautes Gerülpse, Gehuste und Geschlürfe erfüllte den niedrigen tonnenförmigen Raum, in dem vor Zeiten schon Nikolaus Lenau, der Autor der „Albigenserschlacht“ und der „Schilflieder“ sowie Sándor Petöfi getafelt hatten.

Die alten Männer verzehrten die Suppe die Suppe unter Tränen, es war ihnen eine Ehrensache, keinen einzigen Höllenpaprika auf den Schälchen zurückzulassen. Einige Männer weinten still vor sich hin, andere seufzten zwischendurch laut auf, wieder anderen schossen die Tränen förmlich aus den Augen. Und in der Tür stand der Kellner mit verschwitzten, fettigen Haaren und einem verdreckten Küchentuch über dem Arm und beobachtete seine Schäfchen, die der festen Überzeugung waren, daß die Fischsuppe von Tokaj den Tod vertreibe. Nur Greise, die keinen Gefallen am Leben mehr fanden, kamen nicht mehr zur Fischsuppe. Wenige Tage später konnte man ihre Namen schwarz umrandet auf einem Aushang der Gemeinde neben der Garderobe des Lokals lesen.

Herr Groll bekam von einem Nachbarn, der aus dem Waldviertel, jenem hügeligen und klimatisch rauen Gebiet nordwestlich von Wien stammte und Anteilseigner einer Fischzucht war, jede Woche Nachschub an Fischen. Den Zander ersetzte ein Wels, Hecht und Karpfen glichen dem Originalrezept. Da sie beide, Herr Groll und der Dozent, sich zu den vulnerablen Personen zählten, in rhapsodischen Momenten wie sie mit der Verdauung einer höllisch scharfen Fischsuppe einhergingen, bezeichnete Herr Groll sich als „rollende Vorerkrankung“. Er rechnete aber auch den sportlichen Dozenten zur Kohorte der Vulnerablen, dies aber nicht wegen dessen körperlichen Verfassung, sondern wegen des weltanschaulichen Erbschadens, den der Dozent seiner Herkunft aus dem spießigen und arroganten Nobelbezirk Hietzing mit dem zu Tode renovierten Kaiserschloß Schönbrunn verdankte. Aus all diesen Gründen sprachen die beiden gern einer scharfen Halászlé zu und in Seuchenzeiten erhöhten sie den Suppenkonsum je nach Inzidenzlage auf das Doppelte und Dreifache. So kam es, daß der Waldviertler Fischzüchter mit Herrn Groll ein blendendes Geschäft machte – die Fische waren nicht billig. Herr Groll rechtfertigte die Mehrausgaben vor sich damit, daß die täglichen Heurigenbesuche infolge des Lockdowns entfallen mußten, wodurch eine hübsche Summe eingespart werden konnte. Und immer erörterten sie nach dem Essen die Weltlage, legten dabei aber einen Schwerpunkt auf Donaueuropa und da vor allem auf Ungarn. Der Dozent nannte diese Zusammenkünfte Sitzungen einer bedeutenden NGO namens „Pannonian watchdog“. Sie beide stellten einen Leuchtturm der Freiheit in diesen dunklen Jahren für Ungarn dar, so der Dozent.

So saßen die beiden hintereinander in großem Abstand bei Suppe und Rotwein, der eine in der winzigen Küche, der andere im Chambre Separeé wie Herr Groll das Wohnzimmer nannte. Nicht selten hatten sie einen großen Abend.

Molotov an der Donau

Herr Groll auf Reisen. Von Erwin Riess.

Am Tag vor Neujahr saßen Groll und der Dozent mit einer Flasche portugiesischen Weißwein und einem Karamellkuchen an der Buddhistischen Pagode beim Donaukraftwerk Freudenau auf einer Bank und beobachteten den Schiffsverkehr. Herr Groll schwelgte in Erinnerungen an das Donaurestaurant Berger, das sich einst auf der Dammkrone befand. Dort habe bis weit in die Nullerjahre des neuen Jahrhunderts eine brasilianische Köchin schmackhafte brasilianische und portugiesische Gerichte zubereitet. „Die groß gewachsene Frau war wunderschön, sie war die Gattin des Eigentümers, eines Wieners, der mit ihr im Winter in Belo Horizonte und die restliche Zeit in Wien lebte, zumindest bis zur großen Finanzkrise des Jahres 2008. Unter den Süßspeisen, die sie zubereitete, ragte besonders ein portugiesischer Kuchen namens Molotov hervor.“

„Seltsamer Name“, sagte der Dozent. „Hat er etwas mit dem langjährigen sowjetischen Außenminister Molotov zu tun?“

„Keine Ahnung“, sagte Herr Groll und schenkte seinem Freund mit den Worten „Es muss nicht immer Veltliner sein“, vom fruchtigen Vinho Passado von den Azoren ein. „Hier! Kosten Sie! Er war beim Diskonter im Angebot. Ein Wein von den Azoren, der in Wien um einsachtzig verkauft wird! Ein Lob auf den Kapitalismus! Von der Brasilianerin weiß ich nur, daß Molotov eine Eischnee- und Puddingspeise ist, die zum Abschluss eines üppigen Fischessens gereicht wird. Sie gilt auch als eine der Lieblingsspeisen von Diabetikern, die gern mittels Molotov assistierten Suizid begehen. Ich darf das sagen, weil ich auch dieser Elitetruppe angehöre und zu jedem Verbrechen fähig bin, um an Zucker zu kommen. Für ein Blech Molotov, das 8 Portionen ergibt, rechnet man 11 Stück Eiklar, 10 Esslöffel Zucker – man kann je nach Geschmack auch einen Kilo nehmen, ferner ein Viertelkilo selbstgemachtes Karamell, einen halben Kilo Butter und ein paar Orangenzesten, es kann aber auch alles ganz umgekehrt sein, wie gesagt, je nach Geschmack.“

„Das klingt gefährlich – und fantastisch. Aber wieso denken Sie an Selbstmord? Noch dazu einen assistierten? Sie wollen doch immer alles selbst machen?“

„Weil die österreichische Hochjustiz sich seit neuestem gegen behinderte Menschen verschworen hat.“

Das müsse er näher ausführen, sagte der Dozent neugierig.

„Bisher war es so, daß die obersten Gerichtshöfe sich um uns nicht gekümmert haben, und das war gut so. Die 2007 eingeführte Ergänzung im § 7 Bundesverfassungsgesetz, demzufolge behinderte Menschen wie andere Gruppen vor Diskriminierung geschützt seien, war nur eine Schaumschlägerei, Dennoch ließen sich die Behindertenverbände und die Grünen zu Freudenausbrüchen hinreißen. Ich habe damals vergeblich vor der Heuchelei gewarnt. Was die Behindertenfunktionäre nämlich nicht bedachten, war der Umstand, daß ein Verfassungsgrundsatz gesetzlicher Ausführungen durch Bundesgesetze und Verordnungen mit Strafbestimmungen bedarf, um wirksam zu werden und genau die hat man nicht eingerichtet. Der Verfassungszusatz ist ein Muster ohne Wert. Gut fürs internationale Parkett, aber nicht brauchbar für die heimischen Tanzböden. Aber, wie gesagt, das war die gute alte Zeit.

Im Corona-Jahr allerdings haben zwei oberste Gerichtshöfe Gesetze sanktioniert, die nicht nur für uns bedrohlich sind. So hat der Verwaltungsgerichtshof ‚erkannt‘, daß ein vom staatlichen Arbeitsmarktservice verwendeter neuer Algorithmus behinderte Menschen ohne Ansehen von Person und Ausbildung automatisch in jene Gruppe von Arbeitnehmern einreiht, für die es die geringsten Förderungen gibt, wodurch sich die ohnehin skandalös hohe Arbeitslosenrate behinderter Menschen, die um die 45 Prozent liegt, weiter erhöhen wird. Und kurz vor Weihnachten entschied der Verfassungsgerichtshof, der bislang alle Formen von Euthanasie strikt abgelehnt hat, daß assistierter Suizid bei vermeintlich unerträglichem Leid straffrei sei. Die Büchse der Pandora ist damit auch in Österreich geöffnet worden, behinderte Menschen sind fortan einem Dauerdruck zur vorzeitigen Beendigung ihres Lebens ausgesetzt.“

„Und deswegen planen Sie vorsorglich erweiterten Suizid mittels einer Zuckerbombe namens Molotov.“ Der Dozent nahm einen großen Schluck vom Wein.“ Wie ging es mit dem Restaurant weiter?“

„Auf meine seinerzeitige Frage, wie sich die Finanzkrise in Brasilien auswirke, antwortete der Eigentümer: „‚Katastrophal! Sie wissen ja, zu viele Juden!‘ Kurz darauf ging der Laden in Konkurs.“