Der tägliche Massenmord

Walter Baier über das Grenzregime der EU.

Wir reden vom sozialen Mord, der täglich an den, an der Außengrenze der EU gestrandeten Flüchtlingen verübt wird. Allein die Pressemeldungen einer einzigen Woche vermitteln davon ein drastisches Bild.

Am 17. November entdeckten Seenotretter vor der Küste Libyens ein Boot mit 10 Toten. Am 20. November ertranken vor Libyen 75 Menschen. Am 23. November ertranken vor der Küste Frankreichs 35 Geflohene auf einem gekenterten Boot. Die Zahl der Menschen, die seit Jahresbeginn beim Versuch das Mittelmeer zu überqueren, zu Tode gekommen sind, beträgt inzwischen 1.300.

Indessen haben, wie das on-line-Magazin, German Foreign Policy meldete, mehrere Menschenrechtsorganisationen beim Internationalen Strafgerichtshof (ICC) Strafanzeige wegen schwerster Verbrechen eingebracht, die an Flüchtlingen in den Lagern in Libyen verübt werden. Die Beschuldigungen umfassen Freiheitsberaubung, Folter, Vergewaltigung, Versklavung und Mord.

Mutmaßliche Täter sind Wächter und bekannte Milizenführer. Mit Blick auf die Flüchtlingsabwehr der EU heißt es: „Europäische Akteure“ hätten, indem sie die Flucht aus Libyen zu verhindern suchten, „die Verbrechen gegen die Menschheit“ erst ermöglicht.

Elende Verhältnisse

In seinem berühmten Buch „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ hatte Friedrich Engels geschrieben: Wenn aber die Gesellschaft … Tausenden die nötigen Lebensbedingungen entzieht, sie in Verhältnisse stellt, in welchen sie nicht leben können, wenn sie sie durch den starken Arm des Gesetzes zwingt, in diesen Verhältnissen zu bleiben, bis der Tod eintritt, der die Folge dieser Verhältnisse sein muss; wenn sie weiß, nur zu gut weiß, dass diese Tausende solchen Bedingungen zum Opfer fallen müssen, und doch diese Bedingungen bestehen lässt – so ist das ebenso gut Mord. […] Ich werde nun zu beweisen haben, dass die Gesellschaft … diesen sozialen Mord täglich und stündlich begeht. (Marx Engels Werke, Band 2, S. 325). Dieses, von Engels ausgeführte Tatbild erfüllt die Flüchtlingspolitik der EU.

Reden wir also nicht (nur) über Alexander Lukaschenko und sein zynisches Manöver, an irakische, kurdische und syrische Flüchtlinge Einreisevisa wie Flugblätter verteilt, und ihnen einen damit problemlosen Eintritt in die EU in Aussicht gestellt zu haben.

Im Schlamm und in der Eiseskälte vegetieren vor den Stacheldrahtzäunen nicht er und seine Kumpane, sondern mehrere Tausend arme Teufel, denen von der EU das, ihnen in der Genfer Flüchtlingskonvention garantierte Recht auf einen Asylantrag verweigert wird. Mit welchen brutalen Methoden sie zurückgedrängt werden, kann man anhand der bruchstückhafter Berichte, die uns erreichen, nur erahnen, hat doch die polnische Regierung Menschenrechtsorganisationen und Journalist*innen vorsorglich den Zutritt zu den Grenzbezirken untersagt.

Wollte die EU in der Angelegenheit ein Minimum an Anstand zeigen, so müsste sie die Menschen einlassen und ihre Asylanträge in einem ordentlichen Verfahren bearbeiten.

Doch ist die EU-Flüchtlingspolitik in ihrer Gesamtheit ein Hohn auf die in der Genfer Flüchtlingskonvention garantierten Rechte. Sie zu respektieren, würde sichere Korridore als Fluchtwege aus den Krisengebieten erfordern. Nur so könnte den Lukaschenkos dieser Welt und den ausbeuterischen Schleppern der Boden entzogen werden.

Migration ist kein Verbrechen

Auszüge aus einer Rede Kurt Palms, die er auf Einladung der „Aktionsgruppe KPÖ Linz“ beim Protest- und Solidaritätscamp „Wochenende für Moria“ am 10. April 2021 in Linz gehalten hat.

Als 2016 Bilder vom im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlingskindern um die Welt gingen, kommentierte das der damalige Außenminister Sebastian Kurz mit den Worten: „Es wird nicht ohne hässliche Bilder gehen“. Im Klartext heißt das nichts anderes, als dass der Tod von Flüchtlingen im Mittelmeer, an den EU-Außengrenzen oder in den zahllosen Lagern nicht nur ganz bewusst in Kauf genommen wird, sondern dass diese Verbrechen von der EU auch so gewollt sind.

Auf die dramatische Situation der Flüchtlinge auf den griechischen Inseln angesprochen, meinte Innenminister Nehammer, dass auch ihn als Familienvater die Bilder erschüttern und aufwühlen würden. Nach dem Brand in Moria habe Österreich Griechenland allerdings besonders schnell mit Sachleistungen unter die Arme gegriffen. Was die (…) „Sachleistungen“ betrifft, so wissen wir, dass diese auf Lesbos nie angekommen sind.

Kara Tepe ist nach wie vor ein provisorisches Zeltlager, in dem für etwa 8.200 Menschen 1.000 Sommerzelte zur Verfügung stehen, und in dem 1.200 unbegleitete Minderjährige in fünf Großzelten untergebracht sind. Von den fünf Großzelten sind nur zwei mit Stockbetten ausgestattet, in den anderen liegen die Kinder auf dem Boden. Es gibt zu wenig Toiletten, zu wenig Duschen, es mangelt an passender Kleidung und pro Tag wird nur eine kleine Mahlzeit ausgegeben und die ist kalt.

Und obwohl auch Außenminister Schallenberg um die Zustände in Lagern wie Kara Tepe weiß, erklärte er vor zwei Wochen im Parlament: „Wir müssen sehr vorsichtig sein, dass wir hier nicht Signale ausschicken, die dann eine Kettenreaktion auslösen, der wir vielleicht nicht mehr Herr werden. Sobald die Tür nach Europa einen Spalt offen ist, werden sich sofort viele Migranten auf den Weg machen.“

Hört man genau hin, so suggeriert Schallenberg in typisch patriarchaler und autoritärer Manier, dass es sich bei Migrantinnen und Migranten nicht um Menschen mit bestimmten Rechten handelt, sondern um Eindringlinge… Aber die Menschen aus Afrika, Syrien, Afghanistan oder dem Irak flüchten nicht, weil sie gerne reisen, sondern weil sie das Leiden, weil sie der Krieg, weil sie der Hunger aus ihrer Heimat vertrieben hat.

Nehammer und Schallenberg gehören zu den Hardlinern in der ÖVP, die die schmutzige Flüchtlingspolitik der österreichischen Regierung ganz offen verteidigen, wobei mittlerweile auch die Lüge als Mittel zur Durchsetzung ihrer politischer Ziele ganz bewusst eingesetzt wird. So behauptete Innenminister Nehammer etwa, dass Österreich im vergangenen Jahr 5.000 unbegleitete Flüchtlinge aufgenommen hätte, obwohl es Wirklichkeit nur 190 waren.

Gleichzeitig wurden 67 Minderjährige mit familiärer Begleitung abgeschoben, wobei Nehammer betonte, dass die Beamten in solchen Fällen besonders sensibel vorgehen würden. Zynischer geht es wohl nicht mehr, und wenn Bundespräsident Alexander van der Bellen im Zusammenhang mit dem Ibiza-Skandal gemeint hat: „Wir sind nicht so“, dann muss ich ihm im Kontext der Flüchtlingspolitik der österreichischen Regierung antworten: Das stimmt, wir sind noch viel schlimmer.

Freunde der Gemeinheit

Ein Kessel Buntes. Von Franz Fend

Als Ende Jänner die zwölfjährige Tina samt Familie nach Georgien abgeschoben worden ist, war die Empörung in der sogenannten Zivilgesellschaft gewaltig. Einerseits hieß es, solle niemand abgeschoben werden, der in Österreich integriert sei. Zumindest sollten keine Kinder abgeschoben werden, meinten andere.

Sie gehörten oft jener Partei an, die, als sie noch die Innenminister stellten, mit dem Abschieben von Flüchtlingen erst so richtig begonnen haben und deren stellvertretende Vorsitzende aktuell und unwidersprochen einen Einwanderungsstopp fordert. Abgesehen von den sozialdemokratischen Krokodilstränen ist die Empörung in vielen Fälle nur allzu fadenscheinig.

Das Insistieren, doch keine Kinder abzuschieben, bedeutet gleichzeitig, dass man mit dem Abschieben aller anderen durchaus einverstanden sei. Und die mehr oder wenig gelungene Integration als Argument gegen Abschiebungen ins Treffen zu führen, bedeutet, die Integration als Werkzeug der Repression zu befürworten. Denn es besagt nichts anderes, dass unterschieden wird in gute und schlechte Flüchtlinge, solche die es verdienen von Krieg, Hunger und Verfolgung verschont zu bleiben und solche die dies nicht verdienen.

Integration ist immer Unterwerfung unter die Launen der Mehrheitsgesellschaft, wobei diese Launen einmal mehr und einmal weniger brutal sind. Wenn Abschiebungen durchgeführt werden, weil die Regierenden von ihrem eigenen Saustall ablenken wollen, zeigt sich zum einen, wie ungeheuerlich grausam das abendländische Tagesgeschäft ist und zum anderen, dass Unterwerfung bis zum Abwinken Abschiebungen nicht verhindern kann. Im Gegenteil, der Applaus der Mehrheitsgesellschaft wächst ins unermessliche. Und jene, die im Rahmen der zivilgesellschaftlichen Proteste die Forderung nach wirklich offenen Grenzen für alle erheben, werden selbst dort marginalisiert.

Und doch ist diese Forderung die Einzige, die dem Regierungsdiskurs von Gesetzlichkeit und Integration, was übersetzt Bestialität und Erbarmungslosigkeit heißt, etwas entgegenzusetzen hätte. Den Grünen und sozialdemokratischen Wichtigtuern könnte man Handke widmen: „Schieben Sie sich ihre Betroffenheit in den Arsch.“