Halászlé in Floridsdorf

Herr Groll zuhause: Groll berichtet und zeigt, wie mit Fisch und Paprika der Tod vertrieben werden kann. Von Erwin Riess

Der Dozent und Herr Groll verzehrten in Herrn Grolls kleiner Gemeindewohnung eine ungarische Fischsuppe, eine Halászlé nach Tokajer Art. Herrn Grolls Kochkünste waren nicht der Rede wert, aber sein Lecsó und seine Halászlé konnten für die pannonische Küche Ehre einlegen. Seine unzähligen Aufenthalte am Donauknie oberhalb von Budapest oder im Süden, bei Mohács an der Grenze zum ehemaligen Jugoslawien, und in Tokaj hatten ihn in der Fischsuppen-Landeskunde weit vordringen lassen. Daß seine Großmutter mit den Erzählungen von Visegrád das Ihre dazu beigetragen hatte, soll nicht unerwähnt bleiben. Aber auch Herr Groll vermochte aus eigenem Erleben den Fundus von Kocherzählungen zu bereichern. Am besten gefiel dem Dozent jene von der Fischsuppe in Tokaj, die in einer berühmten Haláscsárda am Zusammenfluß von Theiß und Bodrog zu Hause ist. Diese „Mutter aller Fischsuppen“ ist hauptverantwortlich dafür, daß der Altersschnitt der Bewohner eines nahen Pensionisten- und Pflegeheims der höchste im ganzen Land ist. Die Suppe war auch für Ostungarn ungewöhnlich scharf, wies mit Fogás, wie der ungarische Zander genannt wird, Hecht (auf ungarisch: Heck) und Karpfen (Ponty) den besten Fischbesatz auf und kam vulkanfeuerrot und dampfend in einer großen Blechschüssel auf den Tisch. Dazu wurden frisches Weißbrot und ein kleines Schälchen, in dem drei kleine, längliche tiefrote Paprikaschoten zur Erhöhung der Schärfe lagen, aufgetragen. Die Insassen der Pflegeheims saßen einander nicht gegenüber, sondern hintereinander, jeder in seiner eigenen Reihe. Lautes Gerülpse, Gehuste und Geschlürfe erfüllte den niedrigen tonnenförmigen Raum, in dem vor Zeiten schon Nikolaus Lenau, der Autor der „Albigenserschlacht“ und der „Schilflieder“ sowie Sándor Petöfi getafelt hatten.

Die alten Männer verzehrten die Suppe die Suppe unter Tränen, es war ihnen eine Ehrensache, keinen einzigen Höllenpaprika auf den Schälchen zurückzulassen. Einige Männer weinten still vor sich hin, andere seufzten zwischendurch laut auf, wieder anderen schossen die Tränen förmlich aus den Augen. Und in der Tür stand der Kellner mit verschwitzten, fettigen Haaren und einem verdreckten Küchentuch über dem Arm und beobachtete seine Schäfchen, die der festen Überzeugung waren, daß die Fischsuppe von Tokaj den Tod vertreibe. Nur Greise, die keinen Gefallen am Leben mehr fanden, kamen nicht mehr zur Fischsuppe. Wenige Tage später konnte man ihre Namen schwarz umrandet auf einem Aushang der Gemeinde neben der Garderobe des Lokals lesen.

Herr Groll bekam von einem Nachbarn, der aus dem Waldviertel, jenem hügeligen und klimatisch rauen Gebiet nordwestlich von Wien stammte und Anteilseigner einer Fischzucht war, jede Woche Nachschub an Fischen. Den Zander ersetzte ein Wels, Hecht und Karpfen glichen dem Originalrezept. Da sie beide, Herr Groll und der Dozent, sich zu den vulnerablen Personen zählten, in rhapsodischen Momenten wie sie mit der Verdauung einer höllisch scharfen Fischsuppe einhergingen, bezeichnete Herr Groll sich als „rollende Vorerkrankung“. Er rechnete aber auch den sportlichen Dozenten zur Kohorte der Vulnerablen, dies aber nicht wegen dessen körperlichen Verfassung, sondern wegen des weltanschaulichen Erbschadens, den der Dozent seiner Herkunft aus dem spießigen und arroganten Nobelbezirk Hietzing mit dem zu Tode renovierten Kaiserschloß Schönbrunn verdankte. Aus all diesen Gründen sprachen die beiden gern einer scharfen Halászlé zu und in Seuchenzeiten erhöhten sie den Suppenkonsum je nach Inzidenzlage auf das Doppelte und Dreifache. So kam es, daß der Waldviertler Fischzüchter mit Herrn Groll ein blendendes Geschäft machte – die Fische waren nicht billig. Herr Groll rechtfertigte die Mehrausgaben vor sich damit, daß die täglichen Heurigenbesuche infolge des Lockdowns entfallen mußten, wodurch eine hübsche Summe eingespart werden konnte. Und immer erörterten sie nach dem Essen die Weltlage, legten dabei aber einen Schwerpunkt auf Donaueuropa und da vor allem auf Ungarn. Der Dozent nannte diese Zusammenkünfte Sitzungen einer bedeutenden NGO namens „Pannonian watchdog“. Sie beide stellten einen Leuchtturm der Freiheit in diesen dunklen Jahren für Ungarn dar, so der Dozent.

So saßen die beiden hintereinander in großem Abstand bei Suppe und Rotwein, der eine in der winzigen Küche, der andere im Chambre Separeé wie Herr Groll das Wohnzimmer nannte. Nicht selten hatten sie einen großen Abend.

Ein Kriegsmenü an der oberen Adria

Herr Groll auf Reisen: Groll besucht Ronchis nächst Udine und klärt über die Hintergründe des Marchfeldkanals auf. Von Erwin Riess

Fährt man von der alten Via Giulia Augusta, die Grado mit Udine und den Dolomiten verbindet, in Aquileia ab und nimmt die Regionalstraße nach Ronchi, überquert man nach gut einem Kilometer einen unscheinbaren Kanal. Unmittelbar nach der Brücke befindet sich eine Trattoria mit einem großzügig dimensionierten Parkplatz. Groll und der Dozent waren von hier aus aufgebrochen, um den Kanal zu beobachten, lange waren sie auf der Brücke gestanden, der Dozent mit einem Kunstreiseführer und Groll mit einer Lagunen- und Binnenschiffahrtskarte von Friaul.

Der Kanal, hatte Groll ausgeführt, sei zu römischen Zeiten mit den Wassern des Natissa gespeist worden, der wiederum den Binnenhafen von Aquileia dotierte, eine der größten Hafenanlagen der Antike. Der Dozent hatte ungläubig zugehört, dem Rinnsal vermöge er dessen große Vergangenheit nicht anzusehen, und auch die Lektüre des Aquileia-Kapitels helfe ihm nicht weiter.

Unbeeindruckt war Groll in seinen Erklärungen fortgefahren. Das Hafenbecken sei dreihundert- fünfzig Meter lang und fünfunddreißig Meter breit gewesen. Es könne kein Zufall sein, dass diese Maße exakt den Abmessungen der gegenwärtigen Kreuzfahrtschiffe entsprächen, die auf der berühmten Fincantieri-Werft im nur wenige Kilometer entfernten Monfalcone gefertigt würden. Der Dozent hatte nur den Kopf geschüttelt und gemeint, die Komplexe der Binnenschiffer drückten sich unter anderem darin aus, dass sie andauernd Maße mit der Seeschiffahrt vergleichen müssten. Er fühle sich darin in seiner Meinung bestärkt, dass Binnenschiffer eben doch nur die kleinen Brüder der Seeschifffahrt seien. Unsinn, hatte Groll gerufen und auf den Kanal des Natissa gewiesen. Der Hafen von Aquileia sei ein kombinierter See- und Binnenhafen gewesen, ähnlich den Häfen Lissabons, New Yorks, Hamburgs und Antwerpens. Daraufhin hatte der Dozent eingeworfen, dass im Jahr 453 Aquileia, damals immerhin die bedeutendste Stadt nördlich von Rom mit einigen zehntausend Einwohnern, und ihre Hafenanlagen von Attilas Truppen zerstört worden seien. Der Patriarch von Aquileia sei ins uneinnehmbare Grado geflüchtet und habe diese wunderbare Stadt im Stich gelassen.

Die Stadt sei längst am Ende gewesen, hatte Groll erwidert. Die Hunnen hätten eine Hülle vorgefunden, eine Geisterstadt, die sich längst selber aufgegeben hatte. Der Grund sei, wie nicht anders zu erwarten, in der Vernachlässigung der Schifffahrtswege gele- gen. Einem unbedeutenden Kaiser, der mit Aquileia über die Höhe der Olivenölsteuer im Streit lag, sei es nämlich gelungen, die beiden Flüsse, den Natissa und den Natisone, von Aquileia zum Isonzo umzulenken, worauf die Hafenanlagen und das merkantile Leben in der einst blühenden Stadt buchstäblich austrockneten. Woher Groll das wisse, hatte der Dozent gefragt. Von der Geschichte und den militärischen Hintergründen des Marchfeld-Kanals, hatte Groll geantwortet. Die offizielle Begründung für den Kanalbau – die Erhöhung des Grundwasserspiegels im Marchfeld – sei für jeden Beobachter als plumpe Ablenkung vom wahren Zweck des Kanals zu erkennen, nämlich Wien langfristig von der Donau abzuschneiden und, im Falle des Scheiterns der Verhandlungen zum Finanzausgleich, auszutrocknen. Wenn die Wiener einst mit Töpfen und Kannen zum Marchfeldkanal pilgern, der dann die zehnfache Dimension des gegenwärtigen haben werde, schlage die Stunde der niederösterreichischen Landesfürsten. Diese werde Wien austrocknen und zu einer Bezirksstadt Niederösterreichs degradieren. Gut möglich, dass sie oder er sich danach im Stiftsheu- rigen Klosterneuburg zum Kaiser krönen lasse.

Dann saßen die beiden im Schatten des weithin sichtbaren Turms neben der Basilika und tranken Kaffee. Der Dozent hatte sich so in Rage geredet, dass er zwei Cam- pari zur Beruhigung nötig hatte. Groll fand mit einer Flasche Merlot aus den Hügeln des Collio das Auslangen.