Kerem Schamberger über die Lage im befreiten Kurdistan

Es ist eine unglaubliche Leistung, diesen Geburtstag der Revolution von Rojava überhaupt feiern zu können. Wer hätte vor zehn Jahren gedacht, dass diese möglich sein wird. Aber auch der Inhalt des Projektes ist nach wie vor beeindruckend.
Es wurde geschafft, eine stabile, demokratische Selbstverwaltung zu schaffen, die nicht nur für Kurd*innen arbeitet, sondern die die ganze multikulturelle Vielfalt der Region umfasst – in der also Araber*innen, Assyrer*innen, Yesid*innen und viele andere mit- arbeiten. Es wurde also geschafft, eine politische wie auch verwaltungstechnische Vertretung zu schaffen, die der Vielfalt der Region gerecht wird.
Gleichzeitig wurde ein aufopferungsvoller und blutiger Kampf gegen die Terrormiliz des Islamischen Staates (IS) geführt. Dabei sind mehr als 12.000 Kämpfer*innen von SDF (Demokratische Kräfte Syriens) und YPG (Volksverteidigungseinheiten) gestorben, mehrere 10.000 wurden verletzt und sind nun teilweise Kriegsinvalide. Im März 2019 wurde der IS als territoriale Entität besiegt.
Der russische Krieg gegen die Ukraine läuft im Hintergrund der aktuellen Kriegshandlungen gegen Rojava. Aufgrund der relativen Schwächung der russischen Präsenz in Syrien ist ein Vakuum entstanden. Der Fokus der USA liegt derzeit auf Osteuropa. Gemeinsam mit den Europäern soll dort der russische Feind bekämpft werden. Die fehlende Strategie beider Großmächte führt dazu, dass regionale Mächte wie die Türkei die Situation nutzen und vermehrt massive Luftangriffe mit Kampfjets gegen das Projekt der Selbstverwaltung starten, gegen seine zivilen und militärischen Repräsentanten.
Erdogans erstes Ziel ist die ethnische Säuberung von dort lebenden Kurd*innen. Auch um eine vermeintliche Lösung für die syrischen Geflüchteten – von denen ja Millionen seit mehr als zehn Jahren in der Türkei leben – präsentieren zu können. Die Geflüchteten werden in der wirtschaftlichen Situation dafür verantwortlich gemacht, dass es keine Jobs gibt oder dass – die in der Türkei ohnehin kaum existierenden – Sozialleistungen weggenommen würden.
Selbstverwaltung als Feind Erdogan will daher die Gebiete in Nordsyrien erobern, um die Geflüchteten dort anzusiedeln, obwohl die gar nicht aus diesen Gebieten kommen. Damit das möglich ist, muss das Gebiet ethnisch gesäubert werden von den Menschen, die gerade dort wohnen. Das zweite, übergeordnete Ziel ist die Zerschlagung jeglicher Selbstverwaltung. Weil eine erfolgreiche Selbstverwaltung auch für die Kurd*innen in der Türkei ein Vorbild sein und Ausstrahlungskraft entwickeln könnte.
Das iranische Regime steht bekanntermaßen an der Seite des syrischen Assad-Regimes. Es hat in den letzten Jahren maßgeblich dazu beigetragen, dass das Regime in Syrien nicht gestürzt worden ist – durch Militärpersonal und Rekrutierung von Truppen. Daher hat das iranische Regime keinerlei politisches oder strategisches Interesse an der Selbstverwaltung der Kurd*innen in Nordsyrien. Auch deswegen, weil sie – ähnlich wie bei der Türkei – für das iranische Regime ein unerwünschtes Beispiel für die Kurd*innen im eigenen Land darstellen könnte. Das ist auch durchaus der Fall. Aktuell sehen wir etwa, dass bei den Protesten im Westiran bzw. Ostkurdistan immer wieder stark Bezug genommen worden ist auf die Selbstverwaltung in Rojava.