Daniel Steiner über das perfide Ausbeutungsmodell Arbeitskräftemangel

Nicht der Kommunismus, der Arbeitskräftemangel ist das aktuelle Gespenst, das in Europa umgeht. Mit Ende Jänner 2023 meldet das AMS 107.518 sofort besetzbare offene Stellen. Die Zahl der offenen Lehrstellen hat im Jahresabstand um 19,5 Prozent zugelegt, jene der Lehrstellensuchenden bloß um 6,3 Prozent. Unterm Strich fehlen in Österreich aktuell um die tausend Lehrlinge.
Ein Blick auf die Bevölkerungsentwicklung zeigt, die Zahl potenzieller Arbeitskräfte wird in naher Zukunft alterungsbedingt sinken. Dabei befindet sich Österreich im EU-Vergleich noch im Bereich mit unterdurchschnittlichem Arbeitskräftepotenzialverlust. Österreich wird voraussichtlich zwischen 2020 und 2050 fünf Prozent an Personen im erwerbsfähigen Alter zwischen 15 und 64 Jahren verlieren, der EU-Schnitt beträgt 11,7 Prozent, Spitzenreiter Lettland wird in diesem Zeitraum sogar 35 Prozent seiner erwerbsfähigen Bevölkerung einbüßen.
Während sich die zum politischen Hegemon gewordene extreme Rechte in all den von ihr beherrschten Parteien einhellig – koste es was es wolle – gegen Zuwanderung in jeglicher Form ausspricht und parallel dazu die Neoliberalen mittels unverfrorenen Forderungen nach ständiger Erhöhung des Pensionsantrittsalters den verbleibenden Pöbel bis zum Umfallen hackeln sehen will, und mit zusätzlichem Druck auf arbeitslose Menschen hofft, zusätzliches „Potenzial“ zu aktivieren, bleibt die gewerkschaftlich orientierte Linke zu diesem Thema auffällig still. Es scheint an der Zeit, den Blick auf den real existierenden Arbeitskräftemangel und dessen Auswirkungen auf die verbliebenen Beschäftigten zu richten.
Arbeitskräftemangel muss als schleichendes Phänomen verstanden werden. Kolleg*innen kündigen oder gehen in Pension, doch die Anzahl der Bewerbungen für die frei gewordenen Stellen sinkt in den letzten Jahren dramatisch. Die Arbeit der fehlenden Kolleg*innen wird aber trotzdem weiterhin erledigt. Es ist ja nur „vorübergehend“. Aus diesem „vorübergehend“ kann schnell ein Zeitraum von mehreren Monaten, bis zu über einem Jahr werden, bevor wieder eine geeignete und willige Person für den Job gefunden wird.
Teufelskreislauf prolongiert Während die Übriggebliebenen permanenter „vorübergehender“ Mehrbelastung im Job ausgesetzt sind, sieht die Sachlage für die Arbeitgeber*innenseite gänzlich anders aus. Hier spart man sich „vorübergehend“ enorm viel Geld, je länger das „Vorübergehend“ dauert, desto besser. Vielfach wird hier aufgrund kurzfristiger Profitinteressen jedoch die Kehrseite der Medaille übersehen, überspannt man nämlich den Bogen, führt dies zu Überforderung, vermehrten Krankenständen und nicht zu selten zur Selbstkündigung bei der dezimierten Belegschaft.
Ganze Einrichtungen können so kollabieren. Dies kann gerade im Bereich der Elementarbildung, in Krankenhäusern sowie im Alten- und Pflegebereich beobachtet werden. Ein Übergreifen des Phänomens auf andere Branchen ist mehr als wahrscheinlich. Um die Motivation der Arbeitgeber*innenseite zur aktiven Personalsuche nicht zu sehr sinken zu lassen, sollte von gewerkschaftlicher Seite als erster Schritt drauf gepocht werden, die Löhne „vorübergehend“ unbesetzter Posten auf die verbliebenen Kolleg*innen aufzuteilen, anstatt das Geld kampflos der Bourgeoisie zu überlassen. Schweigen und mit den Achseln zu zucken, wird uns jedenfalls nicht weiterbringen.