Ein Buchtipp von Bärbel Rinner

Das eigene Unglück so weit vergrößern, bis man es nicht mehr sieht, scheint das Motto von Elas Eltern zu sein. Gleichzeitig den Blick verengen, bis nur noch ein Schrecknis übrig ist. Und dieses heißt Übergewicht, Fettleibigkeit, Fresssucht. So stellt sich das Unglück für Elas Vater dar, seine Frau ist zu dick und er hat die schlechte Nachrede. Die Speckpolster auf ihren Hüften sind der Grund, warum er nicht befördert wird und für alles andere auch, das schief geht.
Die Mutter will einfach nur weg, zurück in die Stadt. Das Landleben immer unter Beobachtung stehen ist nichts für sie. Aber es sind die 1980er, die Familie ist ein stabiler Käfig, niemand kann entkommen. Tochter Ela erzählt uns die Geschichte aus der Sicht ihres zehnjährigen Ichs, und in Zwischenkapiteln gewinnt sie als Erwachsene Einsichten im Gespräch mit ihrer Mutter.
Was Daniela Dröscher meisterhaft gelingt, ist, Unbehagen zu erzeugen, uns mitzunehmen in die Isolation der Kleinfamilie. Den Ausweg zu zeigen und gleichzeitig „Halt!“ zu rufen. Keine Flucht möglich, auch wenn die Tür scheinbar offen steht. Die Kinder und Enkel der Nachkriegsgeneration können es immer noch spüren, so war es, auf die eine oder andere Weise.
Der Vater ist schwach, aber sein Wille geschieht, weil er der Mann im Haus ist. Die Mutter hat Ambitionen, sie möchte lernen, weiterkommen, aber ach, die Familie, die Kinder, die Dorfgemeinschaft. Das Kind lernt, sich zu arrangieren, mal den einen, mal den anderen Elternteil unterstützend, auch geschickt lügen ist gar nicht so einfach.
Trotz des ungemütlichen Settings liest sich der Roman sehr angenehm. Vielleicht fühlt es sich so heimelig an, weil die eigene Kindheit auch ungefähr in diese Zeit fällt. Der ständige Unterton von Alltagsrassismus klingt allzu vertraut, Elas Mutter stammt nämlich ursprünglich aus Polen. Daniela Dröschers differenzierter Schilderung ist es zu verdanken, dass die Mutter keineswegs als hilfloses Opfer ihr Schicksal erleidet, sondern trotz allem eine selbstbewusste Frau mit festen Grundsätzen ist. Gerade das macht es uns als Leser*innen so schwer, mitanzusehen, wie sie in ihrer Lage verharrt. Diese Ambivalenz erhöht aber durchaus die Spannung. Eindeutige Leseempfehlung!
Daniela Dröscher, Lügen über meine Mutter, Kiepenheuer & Witsch, 2022