Ein herber Verlust

Herr Groll auf Reisen. Von Erwin Riess.

Herr Groll saß am Marchfeldkanal und starrte in die Fluten. Ob ihm etwas fehle, fragte der Dozent und stieg von seiner italienischen Rennmaschine. Er wirke niedergeschlagen. Ob Grolls Freund Emil, der Biber, mit ihm gebrochen habe?

Groll schüttelte den Kopf. Er habe einen schweren Verlust zu beklagen, sagte er traurig.

„Nach dem Tod des weit über die Grenzen Groß-Jedlersdorfer bekannten und beliebten Heurigenwirts, Faschingsprinzen und passionierten Glücksspielers Peter Binder steht sein kleiner Heurigen, das ,Alte Haus‘, leer“, fuhr er fort. „Nun findet sich kein früher Weinbeißer sonntags zu einem Frühschoppen mit Bruckfleisch ein, kein später Weintippler taumelt gegen Mitternacht zur letzten Straßenbahn. Und kein hungriger Junggeselle spricht mehr Binders Mittagküche zu. Über Jahrzehnte hatte Peters Mutter, eine zarte, herzliche Frau, sich mit ihrer Küche erfolgreich gegen den Ausbruch schwerer Hungersnöte im nördlichen Floridsdorf gestemmt.

Peter Binder war keinen typischen Tod eines Heurigenwirts aus Transdanubien gestorben, im Weinkeller nach einem Sturz über die Kellerstiege und nicht mehr ganz nüchtern, nein, er starb in den Bergen, die er, das Kind vom Bisamberg, in dem er seinen Weingarten bearbeitete, über alles liebte. Peter Binder starb auf einer Wanderung oberhalb von Heiligenblut, den Großglockner vor Augen. Hirnschlag, sagten die Doctores, existenzielle Müdigkeit sage ich, der ich mit Peter Binder seit 1985 befreundet bin und so manches Vierterl Riesling oder Zweigelt konsumiert habe.“

„Was bedeutet die Katastrophe für den ,Ständigen Ausschuß zur Lösung sämtlicher Welträtsel‘, der beim Binder-Heurigen in Permanenz tagt?“ wollte der Dozent wissen.

In all den Jahren hatte er es nicht geschafft, in den Ausschuß aufgenommen zu werden, Antrag konnte man keinen stellen, man wurde zum Mitglied ernannt. Auf Lebenszeit. Ein allfälliger Austritt erfolgt mit dem Tod. Auf Anraten des Vorsitzenden Wenzel Schebesta, seines Zeichens Platzwart des FC Wien-Nord, hatte der Millionenerbe aus Hietzing schließlich resigniert. Groll durfte ihn aber bei minder wichtigen Themen als Gast mitbringen. Das Rederecht wurde ihm aber nicht zugestanden.

„Was aus dem Heurigen wird, steht in den Sternen“, antwortete Groll bitter. „Ich dachte immer, der Peter sei unsterblich. Er schien unverwüstlich, für jeden hatte er ein freundliches Wort. Er war weltoffen und parkettsicher, ein vorzüglicher Demokrat. Er duldete keine politische Meinung außer seiner eigenen, und die war in Ordnung. Unvergessen ist die Geschichte eines Stammgastes namens ,Hülserl‘, der die Würde des Proletariats unverdrossen hoch hielt. Als ein zu Haiders FPÖ abgefallener Sozialist sich über die legendären hundert Anzüge des aus Floridsdorf stammenden Finanzministers und Vizekanzlers Hannes Androsch erregte, konterte er mit dem brillanten Satz: ,Sollen unsere Leut’ in Sack und Asche gehen!?’

Die Ausschußtreffen sind mir ebenso in bester Erinnerung wie die vorzüglichen Backhendln und Surschnitzel, die von Köchin Roswitha von der Burg Gmünd und der rothaarigen Kellnerin Sylvia unter die Gäste gebracht wurden. Sylvias Freund arbeitete als Spitzenmechaniker und Schweißer, er wurde mit der Concorde nach New York eingeflogen, wenn ein Motorschaden das Ablegen eines Ozeanriesen in die Karibik verzögerte.“

„Wie wird es nun mit dem Heurigen weitergehen?“ fragte der Dozent kleinlaut.

„Hungern werden wir“, erwiderte Groll müde. „Nach allem, was mit Peter verbunden war.“

Emil, der Biber, schwamm, einen mächtigen Zweig im Maul, kanalaufwärts an den beiden vorbei. Zum Gruß klopfte er zweimal mit dem Schwanz aufs Wasser. Groll winkte ihm zu.

„Zumindest einer, der jetzt nicht hungern muß“, sagte der Dozent.

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