Der Jakobsweg im ersten Bezirk

Herr Groll auf Reisen: Groll erklärt dem Dozenten die klassenmäßige Zusammensetzung von Röstkaffee. Von Erwin Riess

Die Wiener Innenstadt. Im Meinl- Kaffeehaus am Graben verfolgen die Gäste gebannt einen Rollstuhlfahrer im Trainingsanzug, der, vom Stephansplatz kommend, in hohem Tempo zwischen Kiosken und Passanten Slalom fährt. Ein schlaksiger Mann in einem beigen Zweireiher springt auf und eilt ins Erdgeschoß. Im Foyer des Geschäfts prallt der Mann um ein Haar mit dem Rollstuhlfahrer zusammen. Ohne zu bremsen war der am Cafe vorbei ins Lokal gedonnert, Kunden mussten zur Seite springen, um eine Kollision zu verhindern; eine alte Dame im Nerz ließ vor Schreck ihre Einkaufstasche fallen. Glas splitterte, der Geruch von billigem Weinbrand breitete sich aus.

„Anhalten, Freund Groll!“ rief der Mann im Zweireiher und stellte sich mit ausgebreiteten Armen dem Rollstuhlfahrer in den Weg. Der vollführte eine Notbremsung, sein Oberkörper wippte nach vor.

„Sie brauchen nichts zu sagen, geschätzter Freud! Ich kenne den Grund Ihrer Eile. Die Behindertentoilette im 1. Stock. Ich werde Sie führen!“ Der Dozent machte einen Schritt auf Groll zu.

Mittlerweile hatte die Dame im Nerz sich von ihrem Schock erholt, sie rief Schmähungen gegen die Sozialpolitik der Regierung, die es zulasse, dass wild gewordene Krüppel ehrbare Bürger über den Haufen fahren. Nie wieder werde sie für „Licht ins Dunkel“ spenden. Zu guterletzt forderte die aufgebrachte Frau den Ersatz ihres Getränks. Zu Bruch gehende Gebinde müssten ausgetauscht werden, das sei Gesetz. Drohend schwang sie ihre Handtasche.

Groll verbat sich die Hilfe seines Freundes, er sei nicht der Toilette wegen gekommen. Er beharrte fest darauf, nur eines einzigen Zieles wegen den Meinl am Graben aufgesucht zu haben: drei Packungen Jacobs-Monarch-Kaffee.

Der Dozent schüttelte ungläubig den Kopf. „Da fahren Sie den weiten Weg von Floridsdorf in die Innenstadt, um Kaffee zu kaufen?“ Jacobs-Monarch gebe es zwar auch in seinem Heimatbezirk zu kaufen, räumte Groll ein, allerdings handle es sich dabei um die Vorstadtvariante. In der Vorstadt stecke in den Kaffeepackungen eine Mischung aus Zichorienmehl, Feigenmus und ranzigen Pistazienschalen. Den originalen Jacobs-Monarch bekomme man nur an der Wirkungsstätte Ort des Monarchen. Schließlich sei er auch des Trainings wegen hier, ergänzte Groll.

Wenn er glaube, friedliche Passanten für seine körperliche Ertüchtigung gefährden zu müssen, sei er auf dem Holzweg, erklärte der Dozent.

„Falsch! Auf dem Jakobsweg“, sagte Groll. „Genauer gesagt: Auf dessen Zubringern.“

„Wie darf ich das verstehen?“

„Ganz einfach. Ich trainiere für den Jakobsweg. Den bedeutendsten Pilgerweg Europas, der wie seinerzeit der Ho-Chi-Minh Pfad aus einem Netz an Wegen bestehe, deren beide Hauptstränge an der Küste und in den Pyrenäen entlang führen.

„Da ich vorhabe, zwischen den Routen zu pendeln, trainiere ich rasche Richtungsänderungen.“

Wie er auf diese Verwegenheit gekommen sei, wollte der Dozent wissen.

„Zum einen: Bei der Kniewallfahrt nach Mariazell hat man mich nicht genommen, und zum anderen: Ich habe das Beispiel eines befreundeten Ehepaars vor Augen. Die beiden beschlossen anlässlich einer Ehekrise, den Jakobsweg gemeinsam zu absolvieren. Der Entschluss fiel ihnen nicht schwer, immerhin trägt der Mann den Vornamen Jakob.“

Er wolle gar nicht wissen, wie das Experiment ausgegangen sei, erwiderte der Dozent.

„Bestens“, sagte Groll. „Die beiden haben sich noch auf dem Weg getrennt. Er verliebte sich in eine litauische Fernsehjournalistin und lebt jetzt glücklich in Riga. Und sie wurde von einem Jugendseelsorger aus Debrecen in neue Dimensionen der Wollust eingeführt.“

„Strohfeuer“, sagte der Dozent. „Nach ein paar Monaten gehen die Paare wieder auseinander.“

„Irrtum“, sagte Groll. „Der Mann ist jetzt Kameramann und dreht gerade an einer 100-teiligen Dokumentation über den Jakobsweg. Sie wissen, die Litauer sind sehr katholisch. Und die Frau betreibt ein christliches Reisebüro in Esztergom und schickt jährlich Hundertschaften von ungarischen Jugendlichen nach Santiago de Compostella.“ Der Dozent lächelte fein. „Jetzt weiß ich, was Sie auf den Jakobsweg führt. Sie hoffen, in Santiago de Compostella durch ein Wunder wieder gehen zu können!“

Unsinn, erwiderte Groll. Er hoffe, den Kaffee um den dreifachen Preis loszuschlagen. Um den Erlös mache er sich dann ein paar schöne Tage in einem Hafenstädtchen an der Biskaya. Er habe sich auch schon bei ehemaligen Kämpfern der ETA gemeldet. Gegen ein paar Flaschen Brünnerstrassler hätte die Organisation ihm nicht nur Sicherheit, sondern auch eine Hafenrundfahrt garantiert.

„Da wir nun schon einmal hier sind, könnten Sie mich auf eine Schale Jakobs-Monarch einladen“, sagte Groll und sah den Dozenten einladend an.

„Mit Vergnügen“, erwiderte der.

Ruhig und gemächlich bewegten die beiden sich durchs Geschäft und steuerten das Stehcafe an. Beim Kellner bestellte Groll zwei große Espressi und einen Sitzplatz für seinen schüchternen Freund.

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