
Jürgen Heiser über die Mär von der Frauenbefreiung
Afghanistan war Anfang der 1970er Jahre eines der ärmsten Länder der Erde, laut den Vereinten Nationen das am geringsten entwickelte Land Asiens. Über 90 Prozent der Menschen waren Analphabeten, Frauen führten diese traurige Bilanz mit 96 Prozent an.
Nach den in westlichen Medien zunächst kolportierten „Garantien“ der neuen Machthaber in Kabul, Pressefreiheit und Frauenrechte „achten zu wollen“, zeigten sich diese schließlich doch besorgt, die Taliban könnten die angeblich von NATO-Truppen gesicherten Rechte von afghanischen Mädchen und Frauen wieder beseitigen.
Allerdings kam es nicht erst während des ersten Taliban-Emirats zur Unterdrückung von Frauen, aus der sie der NATO-Einmarsch vorgeblich „befreite“. Diese bis heute gepflegte Mär des Westens stellt die Geschichte Afghanistans und speziell des Freiheitskampfes der Frauen auf den Kopf. Im 2001 von der US-geführten Kriegsallianz begonnenen Angriff auf das Land ging es nie um die Befreiung der Frau. Wer das dennoch behauptet, will vergessen machen, dass es gerade die USA, ihre Geheimdienste und europäischen Verbündeten waren, die den in den 1960er Jahren von den afghanischen Frauen begonnenen Kampf um Gleichberechtigung niederschlugen.
Damals hatte der gesellschaftliche Aufbruch vor allem die urbane Jugend erfasst, und es entstand eine starke säkulare Studenten- und Frauenbewegung. Sozialistische und kommunistische Organisationen wurden gegründet, und linke Parteien entwickelten revolutionäre Programme für eine demokratische Umgestaltung. Wie in anderen Teilen der Welt war dieser Aufbruch sicher auch in Afghanistan mit taktischen und strategischen Fehlern behaftet, aber dennoch ein kolossaler Fortschritt.
Eine Zeitzeugin dieser Entwicklung ist die US-amerikanische Journalistin Marilyn Bechtel: Selten sei es dabei um die Anstrengungen gegangen, „die das afghanische Volk in den späten 1970er und 1980er Jahren unternahm, „um sich vom Erbe der unablässig Krieg führenden Stämme und Feudalherren zu befreien und einen modernen demokratischen Staat aufzubauen“.
Auch über die Politik der Sowjetunion in diesem Prozess seien viele Worte gefallen – „meist verzerrt“, wie die Journalistin konstatierte. Denn dabei sei es nie um die fortschrittliche Rolle gegangen, die die junge Sowjetunion lange vor 1978 spielte. Anders als das zaristische und das britische Imperium habe die „neue revolutionäre Regierung in Moskau die Unabhängigkeit Afghanistans anerkannt“ und das Land schon seit den 1920er Jahren beim Aufbau erster Infrastrukturprojekte unterstützt.
Die in Afghanistan geborene Journalistin Sahra Nader zog ebenfalls eine vernichtende Bilanz. „Die USA unterstützten die afghanischen Mudschaheddin, eine fundamentalistische Islamistengruppe, die einen Stellvertreterkrieg gegen die Sowjets führte.“ In dieser Zeit seien die Rechte der Frauen und die Menschenrechte generell für niemanden in den USA oder anderen westlichen Ländern von Bedeutung gewesen.
Indem die von den USA aufgerüsteten Milizen seit den 1980er Jahren ihre Aufgabe erfüllten, den Einfluss der Sowjetunion mit Gewalt zurückzudrängen, zerschlugen sie gleichzeitig alle progressiven Ansätze im Land und wiesen den Frauen lediglich den Platz im Haus zu.
Aus „Junge Welt“ (26.8.2021), gekürzt